Ineffiziente Strukturen als Quelle von Erschöpfung

Autorin: Kristin Eichhorn

Zahlreiche Erschöpfungsquellen

Der Podcast „Erschöpfte Wissenschaft?!“ hat in seinen zehn Folgen bisher schon einige Quellen von Erschöpfung in der Wissenschaft ausgelotet, darunter sowohl strukturelle Aspekte als auch solche, die mit den Überzeugungen der im System Wissenschaft Tätigen zusammenhängen. Wir wissen, dass die Arbeitslast in vielen Fällen deutlich zu hoch ist, dass Stellenprofile unrealistische Anforderungen stellen und der ständige Konkurrenzdruck Wissenschaftler*innen dazu anhält, immer noch ein Paper mehr zu schreiben, noch einen Vortrag zu halten, noch ein Drittmittelprojekt zu starten. Die Konkurrenz ist hart und es verlangt den Einzelnen sehr viel Disziplin wie Bewusstsein für die eigenen Grenzen und Bedürfnisse ab, sich den ganzen Einladungen zum Arbeiten rund um die Uhr dauerhaft zu widersetzen. Dass viele gar nicht (mehr) wissen, dass sie das tun dürfen, dass ihnen jegliches Gefühl dafür abhandengekommen ist, wie wenig normal es sein sollte, die Wochenenden durchzuarbeiten und auf Erholung zu verzichten, wird in den Gesprächen erschreckend deutlich.

Woran liegt es?

Schaut man auf die strukturellen Aspekte, ist klar, wo die viele Arbeit herkommt: Wer keine Dauerstelle hat (also der überwiegende Teil der in der Wissenschaft Beschäftigten), muss ständig daran arbeiten, die nächste Vertragsverlängerung zu bekommen. Dies bedeutet: Bewerbungen oder Projektanträge schreiben. Es erzeugt Arbeit, sowohl für die abhängig Beschäftigten als auch für ihre Vorgesetzen, die ihr Personal halten wollen und irgendwo die Mittel dafür herbekommen müssen. Man kann die wissenschaftliche Kernarbeit aber genauso wenig liegen lassen wie die Lehre.

Es gibt jedoch noch einige weitere strukturelle Faktoren, die wesentlich zur Erschöpfung der in der Wissenschaft Arbeitenden beitragen – unabhängig davon, welcher Statusgruppe sie angehören und ob ihre Perspektive im System eine dauerhafte ist oder (noch) nicht. Und das sind die zahlreichen Ineffizienzen und Doppelstrukturen.

Ineffiziente Bewerbungsprozesse

Dass Universitäten mit ihrer Digitalisierung häufig hinterherhängen, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Es sind viele kleine Dinge, die dem wissenschaftlichen wie dem nichtwissenschaftlichen Personal jeden Tag Zeit und Nerven rauben – und damit unnötig zu einer ohnehin schon grassierenden Erschöpfung beitragen.

Schauen wir uns exemplarisch den Prozess eines Berufungsverfahrens an, also des Verfahrens, mit dem üblicherweise Professuren besetzt werden. Ich schreibe öfter über Berufungsportale, die ein schönes Beispiel für ineffiziente Prozesse sind, weil sie gerne Menschen dazu zwingen, einzelne Positionen, die ohnehin im angehängten Lebenslauf stehen, noch einmal händisch in digitale Formulare einzutragen. Darüber vergehen Stunden – nur damit am Ende Synopsen entstehen, mit denen die zuständige Berufungskommission nichts anfangen kann.

Wenn man die Bewerbung erst einmal mühsam eingegeben hat, dauern die Besetzungsverfahren in Deutschland in vielen Fällen mehrere Jahre und verlaufen nicht selten im Sande, weil die Bewerber*innen natürlich inzwischen andere Stellen gefunden haben oder sich ohnehin nur beworben hatten, um mit dem Ruf an der eigenen Universität nachzuverhandeln.

Berufungsverfahren als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

Hinzu kommen noch einzelne Aspekte dieser Verfahren, die ebenfalls ohne Grund Arbeitszeit verschlingen. Nehmen wir als Beispiel die an vielen Hochschulen inzwischen zum Verfahren gehörenden Lehrproben. Eingeführt hat man sie, um auf den Umstand zu reagieren, dass Lehre bei Professurbesetzungen weniger zählt als Forschung. Nun kommt zum Fachvortrag und dem Gespräch mit der Kommission also noch eine Lehrprobe hinzu, bei der man in einer mehr oder weniger künstlichen Situation vor fremden Studierenden eine Unterrichtseinheit durchführen darf, die natürlich keinerlei Kontext hat und wesentlich kürzer ist als die übliche Veranstaltungslänge…

Man kann vieles an diesem Vorgehen kritisieren – etwa, dass das Wort der Studierenden meist wenig Gewicht hat bei der endgültigen Entscheidung und dass diejenigen, die in der Kommission über die Lehrqualität der Bewerber*innen urteilen sollen, selbst häufig gar keine formale Lehrqualifikation oder Weiterbildung in diesem Bereich vorweisen mussten.

Der Prozess schafft aber vor allem auch Doppelstrukturen: Zumindest dem Namen nach geht mit der Habilitation die Prüfung der Lehrbefähigung einher und es wird die venia legendi verliehen. Wenn diese vorliegt, warum prüft dann jede Hochschule einzeln noch einmal, ob eine sich bewerbende Person lehren kann? Oder umgekehrt: wozu die Lehrbeurteilung in Habilitationsverfahren, wenn man am Ende bei jeder Bewerbung noch einmal zeigen muss, was man kann?

Vertrauen ist gut, Begutachtung ist besser?

Unsere Begutachtungsstrukturen sind allgemein sehr ineffizient. Offensichtlich vertraut man den Gutachten und Zeugnissen anderer Institutionen lieber nicht, sondern sieht sich gezwungen, jedes Mal die Qualifikation einzelner Wissenschaftler*innen erneut zu eruieren. Dies mag sogar berechtigt sein, wenn wir von einem System unzuverlässiger und mangelhafter Begutachtungsprozesse voller Befangenheiten ausgehen – aber warum setzt man dann überhaupt auf ein offenkundig als so überaus fehleranfällig empfundenes Verfahren als Goldstandard?! Es ist nicht zu verstehen.

Externe Gutachten

Zur Sicherung von Objektivität und Exzellenz der Auswahl müssen im Berufungsverfahren als Nächstes die Schriften der Bewerber*innen extern begutachtet werden. Schriften wohlgemerkt, die in den meisten Fällen wiederum bereits mehrfach begutachtet worden sind – entweder im Rahmen von Qualifikationsverfahren oder von Peer-Review-Publikationsprozessen. Damit schafft man also erneut einiges an (unnötiger) Arbeit: Es müssen sich schließlich Personen finden, die die Gutachten schreiben, und das Verfahren verzögert sich, während man auf die Gutachten wartet.

Bringt es dann aber überhaupt einen Gewinn an Objektivität? Nun ja. Begutachtet werden am Ende ja nur noch die Schriften der bis in die letzte Runde gekommenen zwei bis vier Kandidat*innen (mehr wäre an Arbeitsaufwand niemandem zuzumuten). Damit hat die Kommission de facto schon eine Auswahl getroffen, zumal man durch die Wahl der Gutachter*innen auch Lenkungseffekte erzeugen kann. Mit anderen Worten: Wenn man die Auswahl in eine bestimmte Richtung steuern will, sind externe Gutachten im letzten (!) Stadium des Prozesses keine brauchbare Gegenmaßnahme. Man spielt hier vorrangig für die Außenwirkung Verhinderung von Vetternwirtschaft. Wirklich effektiv ist die Maßnahme nicht.

So viele Baustellen…

Und so ist das ganze Wissenschaftssystem mit Strukturen versehen, die Prozesse ineffizient gestalten. Man kann noch einige andere nennen: die Diffusion von Zuständigkeiten zum Beispiel. Die Bindung an bestimmte Vertragspartner, über die Reisen gebucht werden müssen, die aber mit dem Vorgang völlig überfordert sind. Die Beschränkung auf eine bestimmte technische Grundausstattung, die wegen ihrer schlechten Qualität unzuverlässig ist und Arbeitsabläufe verlangsamt.

Nun ist es keine einfache Angelegenheit, all diese Aspekte zu bearbeiten, weil es sich bei wissenschaftlichen Einrichtungen um sehr komplexe Gebilde handelt. Aber es wird etwas passieren müssen, denn diese kleinen Alltagsfrustrationen machen den Sektor zu einem unattraktiven Arbeitgeber – schon ganz abgesehen von der Problematik der wissenschaftlichen Karriereperspektiven, die noch hinzukommt. Damit wird es aber immer schlimmer, denn ohne kompetentes Personal verzögern sich die Prozesse weiter. Unzufriedene Mitarbeiter*innen machen keine optimale Arbeit und nehmen irgendwann bessere Angebote an, womit sich eine neue Kraft erst wieder einarbeiten muss. Es ist deshalb zwingend nötig, an allen Stellschrauben zu drehen, die einigermaßen gut anzugehen sind. Dazu muss man freilich bereit sein, neue Wege zu beschreiten, statt sich im Defizit einzurichten. Vor solcher Trägheit kann man nicht deutlich genug warnen. Die Kosten des Status quo sind für alle Beteiligten aktuell schlichtweg zu hoch.

PD Dr. Kristin Eichhorn vertritt derzeit eine Professur für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Zusammen mit Amrei Bahr und Sebastian Kubon hat sie das Buch #IchBinHanna – Prekäre Wissenschaft in Deutschland (Suhrkamp 2022) verfasst.

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Erschöpfte Wissenschaft?!

Der Blog zum Podcast mit Nele Matz-Lück und Marc Dechmann. Auf dieser Seite laden wir ein zum vertieften Austausch über ein erschöpftes und erschöpfendes Wissenschaftssystem. Es geht um Kritik an Strukturen, aber vor allem auch um Lösungsvorschläge und die kleinen Schritte, die wir gehen können, um das System in Bewegung zu bringen.